Hauptsache selbstständige Bewegung: Parasportler Dietmar Nikolaus und Stephan Büchler lieben die Geschwindigkeit

Foto: Zur offenen DGIHV-Fachtagung „Parasport, Hilfsmittel
und Teilhabe“ geben Experten aus Medizin,
Orthopädietechnik und Sport am 19.8. in der
Aula der Universität Rostock ein Update zur
qualitätsgesicherten Hilfsmittelversorgung im
Grenzbereich. Copyrights: Ecki Raff, DGIHV, privat, Martin
Hoepfner, Thomas Rahr Universität Rostock
/ IT- und MEDIENZENTRUM

Expertentreff tagt am 19. August in Rostock zum Thema „Parasport, Hilfsmittel und Teilhabe“

Monoski, Rollstuhlsport oder Wasserski – kein Sport scheint Dietmar Nikolaus schnell genug zu sein. Den doppeltamputierten Trainer und Übungsleiter sowie Spieler der Rollstuhlbasketball-Spielgemeinschaft Rostock-Greifswald zieht es zudem in den warmen Monaten für den Wasserskisport ans Wasser und im Winter mit seinen Monoskiern in die Berge. Ob Meer oder Berge, Wiese oder Wüste – der 42-jährige Extremsportler Stephan Büchler bewegt sich nach seiner Amputation in Rostock 1996 mit zwei Rädern von einem internationalen Wettbewerb zum anderen. Zwei Geschichten – eine Botschaft: Hilfsmittelversorgung für Alltag und Sport ermöglicht Teilhabe.

Wie die Versorgung in Deutschland gesichert oder sogar verbessert werden kann, diskutieren Experten am 19. August in Rostock zur 6. offenen Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) in Kooperation mit der Universität Rostock und der Universitätsmedizin Rostock unter Leitung von Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier.

Versorgung nach Maß

Den Drang zur Bewegung hatte der 69-jährige Dietmar Nikolaus bereits vor seinem Unfall vor 50 Jahren, der zur Amputation seines rechten Fußes und linken Unterschenkels in der Universitätsklinik Münster führte. Nach der sicheren Nutzung seiner beiden Unterschenkelprothesen kehrte er vor 35 Jahren in den aktiven Sport zurück. „Für mich ist das Bedürfnis nach Bewegung ganz selbstverständlich“, erklärt Dietmar Nikolaus, der seit 2005 in der Nähe von Güstrow eine neue Heimat gefunden hat.

Seither betreut ihn die Liebau Orthopädietechnik in Rostock. „Allein die Doppelamputation stellt grundsätzlich eine besondere Herausforderung bei der Versorgung mit Prothesen dar, hier kommt noch die unfallbedingt schwierige Knochen- und Weichteilsituation der Stümpfe dazu. Beides zusammen – eine echte Herausforderung und komplexe Aufgabe für unsere Techniker, gerade bei so anspruchsvollen und aktiven Anwendern wie Herrn Nikolaus“, kommentiert Andreas Kohn, Orthopädietechniker-Meister und Gesellschafter/Geschäftsführer bei Liebau die Alltags-Prothesenversorgung des Dipl.-Wirtschaftsingenieurs im Ruhestand.

Darüber hinaus verfügt Dietmar Nikolaus über einen maßgefertigten Sportrollstuhl für den Rollstuhlbasketball sowie maßgefertigte Mono- und Wasserski. Im schnellen und mit viel Körperkontakt verbundenen Rollstuhlbasketball fühle er sich mit seinen Alltagsprothesen eher behindert und verzichte daher auf Prothesen im Sportrollstuhl, so Nikolaus. Im Alltag erlauben ihm aber die beiden Unterschenkelprothesen, die aufgrund der komplizierten Verletzungen rechts mit Abstützungen bis zum Knie und links bis zur Hüfte ausgestattet sind, ein relativ schmerzfreies Laufen.

„Da es sich bei meiner Verletzung um einen Arbeitsunfall handelte, übernimmt meine Berufsgenossenschaft den Großteil der Kosten der Hilfsmittelversorgung auch für meinen Sport. Nur meine Wasserskier habe ich selbst finanziert“, so der begeisterte Sportler. „Ich bin sehr zufrieden mit meiner Situation, weiß aber, wie schwierig sich die Kostenübernahmen für gesetzlich Versicherte darstellt. Ich kann nur sagen: Gebt den Leuten, was sie brauchen!“, fordert er mit Blick auf die Kostenträger. Denn die Versorgung mit Prothesen habe in den letzten Jahrzehnten unglaubliche Fortschritte gemacht. Er habe zu Beginn noch ein Holzbein mit Lederschaft getragen und freue sich heute über die wesentlich angenehmer zu tragende Prothesenkonstruktion aus leichtem Carbonmaterial in kosmetischer Ummantelung mit Schäften aus Hightech-Kunststoff, so der Multi-Sportler.

Menschen brauchen Bewegung – vom Spitzensport lernen

Sport hält Dietmar Nikolaus für absolut notwendig für Körper, Seele und Teilhabe. Doch leider würden sich zu wenige Menschen mit oder ohne Einschränkung bewegen wollen. Diese Position vertritt auch PD Dr. Christoph Lutter, aktuell Leiter der Sektion Sportorthopädie an der Klinik und Poliklinik für Orthopädie der Universitätsmedizin Rostock: „Wir können aus der Versorgung von Para-Leistungssportlern unglaublich viel für die Alltagsversorgungen lernen. Deshalb sollen sich Vertreter aus Medizin und Orthopädie-Technik zum Austausch mit Parasportlern in Rostock treffen. Gemeinsam wollen wir die hohe Qualität der Hilfsmittelversorgung in Deutschland sichern und weiter vorantreiben.“

Für Dr. Rolf Kaiser, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin I des Klinikums Südstadt Rostock, kommt ein weiterer Aspekt hinzu: „Die Sportmedizin im Parasport hat sich enorm weiterentwickelt und ich freue mich, dass die DGIHV-Fachtagung den Rahmen für den wissenschaftlichen und kollegialen Austausch bietet, um unsere Sportler in Mecklenburg-Vorpommern auch weiterhin professionell betreuen und versorgen zu können. Die öffentliche Anerkennung und die Präsenz in den Medien fungiert als ‚Booster‘ für den Parasport und Rostock bietet alle Möglichkeiten, sich als zentralen Standort zu empfehlen.“

Christoph Lutter und Rolf Kaiser gehören zu den Referenten der 6. offenen Fachtagung der DGIHV, die am 19. August in der Aula der Universität Rostock stattfindet. Die Tagung mit Experten aus Medizin, Orthopädie-Technik und dem Parasport rund um Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, Klinikdirektor der Orthopädischen Klinik in Rostock und erster Vorsitzender der DGIHV, steht unter der Überschrift „Parasport, Hilfsmittel, Teilhabe“. „Wir müssen das öffentliche Bewusstsein stärken, dass Sport auch und besonders für behinderte Kinder eine wesentliche Förderung ihrer Entwicklung bewirken kann“, so Mittelmeier. Zur Fachtagung geben zahlreiche Experten ein Update zur qualitätsgesicherten Hilfsmittelversorgung im Grenzbereich. Zu ihnen gehört auch der Extremsportler und Orthopädietechniker Stephan Büchler.

Sich selbst und anderen helfen

Mit 15 Jahren erhielt Stephan Büchler die Diagnose Krebs. Ein Jahr später, 1997, fand am Universitätsklinikum Rostock die lebensrettende Amputation des rechten Beines oberhalb des Knies statt. Mit einer Oberschenkelprothese versorgt, gab es anschließend nur eine Priorität für den Teenager: eigenständige Mobilität. So kam ihm die Idee zum Radfahren.

Vor 20 Jahren nahm er an der ersten großen Tour, der Hansetour mit 4.000 Kilometern – davon rund 2.000 mit dem Fahrrad – teil. Längst ist er als Radprofi eine feste Größe. Stephan Büchler hat weltweit bereits an etlichen internationalen Wettkämpfen teilgenommen. Bei den Extremity Games in Downhill für amputierte Sportler in den USA errang er zweimal Bronze und zweimal Gold. Als erster amputierter Sportler absolvierte er die Megavalanche, das längste Mountainbike-Downhill-Rennen der Welt in den Pyrenäen. Sein Vorteil bei allen Wettbewerben: Stephan Büchler ist mit Herzblut Orthopädietechniker und Gangschultrainer beim Orbisana Sanitätshaus in Wismar. Er wirkt bei Forschung und Entwicklung von Prothesenpassteilen mit. „Was kann es Besseres geben, als sich selbst und anderen helfen zu können?“, meint der 42-Jährige und betont, wie wichtig die Zusammenarbeit von Ärzten, Orthopädietechnikern und Physiotherapeuten ist, um die Hilfsmittelversorgung für Sportler und Nichtsportler stetig zu verbessern.  

DGIHV e.V.

Die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung e. V. (DGIHV) ist als gemeinnütziger Verein eingetragen und hat ihren Sitz in Dortmund. Die Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, Ansprechpartner für alle medizinischen und technischen Fragestellungen in der Technischen Orthopädie und der Hilfsmittelversorgung der Patienten zu sein. Die Förderung von Wissenschaft und Forschung sowie des Gesundheitswesens zählt sie zu ihren zentralen Aufgaben.

Weitere Informationen finden Interessierte hier. Anmeldung über info@dgihv.org