Fehler im System: Gemeinsam Hilfsmittelversorgung auf neue Füße stellen

Erkrankung, genetische Veranlagung oder Unfall – viele Wege führen zu einer Einschränkung und zu wenige zurück zu einer Teilhabe. Das liegt an Fehlern im System der Hilfsmittelversorgung in Deutschland wie schleppende Kostenübernahmen durch Kostenträger, Lücken in der Rehabilitation oder mangelnde Fachkenntnisse selbst in den beteiligten Berufsgruppen – darin waren sich die teilnehmenden Experten der 7. Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) am 11. August 2023 in Göttingen einig. Was muss sich ändern, damit Menschen mit Einschränkungen schnell, unkompliziert und fachgerecht die notwendige Hilfsmittelversorgung in Deutschland erhalten?

Ärzte, Orthopädietechniker, Ingenieure, Anwender und Vertreter der Medizinischen Dienstes sowie medizinischer Fachgesellschaften diskutierten diese Frage unter der Überschrift „Versorgung stärken – Barrieren abbauen“. Sie stellten insgesamt neun Lösungsansätze vor, die zur Verbesserung der Hilfsmittelversorgung in Deutschland führen können:

  • Bedarfsgerechte Versorgung durch ein im interdisziplinären Team erstelltes Versorgungskonzept
  • Schnellere Kostenübernahme durch die Kostenträger
  • Einschränkung des Prüfrechts durch Krankenkassen
  • Spezialisierte Zentren mit interdisziplinären Teams
  • Neues Verordnungsmuster für rechtskonforme Darstellung von Versorgungskonzepten
  • Höhere Qualität ärztlicher Verordnungen
  • Bessere Aus- und Fortbildung von Ärzten
  • Individuellere, flexiblere und differenziertere Rehabilitation nach Amputation
  • Mehr Zeit für Testphasen bei Prothesenversorgung – insbesondere bei Kindern

„Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, das System zu ändern”, betonte Univ.-Prof. Dr. med. habil. Wolfram Mittelmeier, 1. Vorsitzender der DGIHV, Klinikdirektor der orthopädischen Klinik und Poliklinik in Rostock. Es sei in den letzten Jahren genug geredet worden, nun müssten alle ins Handeln kommen, unterstrich auch Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbands für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und DGIHV-Vorstandsmitglied, in der abschließenden Podiumsdiskussion.

Zu den weiteren Experten, die sich in Göttingen austauschten, zählten Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR), Dr. Dietmar Rohland, Leiter Geschäftsbereich Consulting des Medizinischen Dienstes Niedersachsen, Dr. phil. Christoph Egen, Klinikmanager und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Rehabilitationsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover, Olaf Gawron, stv. Vorsitzender der DGIHV, Mitglied der Geschäftsleitung der Pohlig GmbH, Prof. Dr.-Ing. Malte Bellmann, Professor für Orthopädietechnik und Biomechanik an der PFH Göttingen und Prof. Dr. med. oec. Bernd Greitemann, Ärztlicher Direktor der Klinik Münsterland am RehaKlinikum Bad Rothenfelde. Prof. Dr. Metin Tolan, Präsident der Georg-August-Universität Göttingen, begrüßte zu Beginn die Experten. Dr. Andreas Philippi, niedersächsischer Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, sprach ein Grußwort. Paralympics-Sportler Felix Streng wurde aus dem Trainingslager zugeschaltet.

Hintergrund

Pro Jahr finden in Deutschland rund 25 Millionen Versorgungen mit orthopädischen Hilfsmitteln wie Prothesen, Orthesen und Rollstühle statt. Insgesamt 8,85 Milliarden Euro gaben die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2022 für die Versorgung gesetzlich Versicherter mit Hilfsmitteln aus. Allein 16.500 Beinamputationen und 49.000 Fuß/Zehenamputation wurden im Jahr 2021 laut DRG-Statistik vorgenommen. Diese Amputationen erfordern komplexe Hilfsmittelversorgungen. Bereits im November 2022 ergab eine Umfrage des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“ (WvD), dass 88 Prozent der befragten Leistungserbringer befürchten, dass sie eher starke, starke und sehr starke Einschränkungen in der Hilfsmittelversorgung zukünftig befürchten.

Auch heute noch muss ein großer Teil der Hilfsmittel vor der Versorgung von Mitarbeitern der Medizinischen Dienstes (MD) beurteilt werden. Über den MD soll die Notwendigkeit ärztlicher Hilfsmittelverordnungen für den Patienten vorab überprüft werden. Im letzten Jahr gab der MD 242.000 Stellungnahmen nur zu Anträgen zu Hilfsmitteln und Hilfsmittel nahen Medizinprodukten der Gesetzlichen Krankenversicherungen ab, wie Dr. Dietmar Rohland, Leiter Geschäftsbereich Consulting des Medizinischen Dienstes Niedersachsen, in der Fachtagung berichtete. Nach Einschätzung des MD erfüllten im Jahr 2022 lediglich 42,4 Prozent der vom MD geprüften Anträge die Voraussetzung für die Leistungsgewährung und 16,9 Prozent eingeschränkt. Bei 29 Prozent der geprüften Versorgungsanträge empfahl der MD eine Ablehnung!  

Bildunterschrift: Univ.-Prof. Dr. med. habil. Wolfram Mittelmeier, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV), Klinikdirektor der orthopädischen Klinik und Poliklinik in Rostock, eröffnet die 7. Fachtagung der der DGIHV am 11. August 2023 in Göttingen. Foto: DGIHV / Kirsten Abel