DGIHV-Fachtagung 2025: Hilfsmittelversorgung – der unsichtbare Retter im Gesundheitssystem

Die Ergebnisse der 8. Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) „Konservativ First?!“ in Hannover könnten richtungsweisend für das deutsche Gesundheitssystem sein: Denn Hilfsmittel spielen eine Schlüsselrolle in der modernen Medizin. Sie verhindern vermeidbare Operationen, sichern die Rehabilitation nach Krankenhausaufenthalten und entlasten die Pflege nachhaltig. Doch der Zugang zu diesen unverzichtbaren medizinischen Hilfsmitteln ist gefährdet – vor allem für Kinder, Pflegebedürftige und finanziell schwächer Gestellte. Experten warnen: Wird hier nicht gegengesteuert, drohen langfristige Schäden für Patienten und steigende Kosten für das Gesundheitssystem. Gastgeber der 8. DGIHV-Fachtagung war die Medizinische Hochschule Hannover.

„Die Frage, ob ‚Konservativ First?!’ der richtige Ansatz ist, bietet enormes Potenzial für Innovation und Weiterentwicklung. Gleichzeitig fordert sie uns heraus, kritisch zu hinterfragen, wie wir die Versorgung weiter verbessern können. Die Sicherung des OP-Erfolgs, die Entwicklung neuer Therapieansätze und die Förderung multiprofessioneller Teams sind hier entscheidende Bausteine“, erklärte Prof. Dr. Denise Hilfiker-Kleiner, Präsidentin der gastgebenden Medizinischen Hochschule Hannover in ihrem Grußwort zu Beginn der Fachtagung.

Hilfsmittel: Unverzichtbare Begleiter der Medizin

Ob nach einer Operation oder zur Vermeidung eines Eingriffs – Hilfsmittel wie Prothesen, Orthesen, Bandagen, Kompressionsstrümpfe oder Rollstühle ermöglichen es Menschen, schneller wieder in den Alltag zurückzukehren. Sie senken die Belastung für Krankenhäuser und Pflegepersonal und sichern die Heilungserfolge ab. „Wir müssen bewährte Hilfsmittel und Innovationen, die in diesem Bereich entwickelt werden, konsequent bei den Versicherten ankommen lassen“, forderte Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier, Vorstandsvorsitzender der DGIHV. „Leitlinien, Versorgungspfade und Lehrpläne müssen interdisziplinär abgestimmt und von Kostenträgern anerkannt werden. Gleichzeitig brauchen wir eine leistungsgerechte Vergütung, die Qualität und Effizienz belohnt. Und nicht zuletzt müssen wir den enormen bürokratischen Aufwand und seine Kosten senken. So geben wir am Ende weniger aus, erreichen aber mehr für die Gesundheit unserer Gesellschaft.”

Konservative Orthopädie: Chancen für Patienten und das Gesundheitssystem

Konservative Ansätze, wie die Versorgung von Menschen mit Bandagen, Orthesen oder Einlagen, spielen eine entscheidende Rolle bei Volkskrankheiten wie Kniearthrose und Diabetes. Bei Kniearthrose könnten laut DAK-Versorgungsreport 2022 zehn Prozent der Operationen durch frühzeitige Versorgung mit Hilfsmitteln und Physiotherapie verhindert werden. Das ist nicht nur kostengünstiger als Prothesen, sondern verbessert auch nachhaltig die Lebensqualität.

Auch bei Diabetes zeigen Hilfsmittel großes Potenzial: Über 85 Prozent aller Amputationen der unteren Extremität betreffen Menschen mit Diabetes, oft verursacht durch offene Fußgeschwüre. Durch eine frühzeitige Versorgung mit entlastenden Schuhen und Einlagen könnten viele dieser Eingriffe vermieden und Folgekosten von bis zu 10.000 Euro pro Fall gesenkt werden.

„Die Beispiele zeigen eindrücklich, wie konservative Ansätze die Lebensqualität der Patienten verbessern und zugleich die Solidargemeinschaft finanziell entlasten können“, erläuterte Albin Mayer, Vizepräsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik zur DGIHV-Fachtagung. Die Förderung solcher Präventionsmaßnahmen sollte, so Mayer, deshalb einen zentralen Stellenwert im Gesundheitssystem haben. „Wenn wir die konservative Versorgung stärken, Kompetenzen klar zuweisen und die Versorgung von bürokratischen Prozessen trennen – Stichwort Entbürokratisierung –, profitieren alle – Patienten, Leistungserbringer und das Gesundheitssystem.“

Kostenübernahme: Ein Risiko für den sozialen Zusammenhalt

Ein zentrales Thema der Tagung war die Finanzierung. „Eigenanteile könnten dazu führen, dass einkommensschwächere Versicherte auf notwendige Hilfsmittel verzichten – mit weitreichenden Folgen für ihre Gesundheit und das Gesundheitssystem”, erklärte Prof. Dr. Wolfram Mittelmeier. Der Appell der Experten: Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen muss gesichert und die Einführung neuer, innovativer Hilfsmittel beschleunigt werden.

„Gesetzliche Leistungsausweitungen sind angesichts der Finanzierungssituation der GKV unwahrscheinlich“, betonte hingegen Andreas Brandhorst, Referatsleiter Hilfsmittel im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), in seinem Vortrag. Er hob die zentralen Zwecke der Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V hervor – von der Sicherung des Behandlungserfolgs über die Vorbeugung einer drohenden Behinderung bis zum Ausgleich von Behinderungen. „Während die Kosten des Reha-Sports und des Funktionstrainings zur Leistungspflicht der GKV gehören, zählen die Förderung von Freizeitsport und Vereinssport nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung“, erläuterte Brandhorst.

Sport als Schlüssel zu Gesundheit und Lebensqualität

Regelmäßige Bewegung steigert nicht nur die Fitness von Herz und Kreislauf, sondern reduziert auch das Risiko von Stürzen – ein entscheidender Faktor für ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen. Zudem verbessert Sport nachweislich die Prognose bei bestehenden chronischen Erkrankungen und verringert das Risiko von Folgeerkrankungen, wie Benedikt Ewald, Direktor Sportentwicklung beim Deutschen Behindertensportverband e.V. (DBS), in seinem Vortrag hervorhob. „Denn in den meisten Fällen werden die Hilfsmittelverordnungen für den Sport durch die Krankenkasse abgelehnt. Der Grund: Freizeit-, Breiten- und Vereinssport werden nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gezählt“, sagte Ewald in Hannover. „Kein Wunder, dass von den mehr als 13 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland 55 Prozent keinen Sport treiben.“

Kinder und Pflege: Besondere Versorgung braucht besondere Unterstützung

Die Teilnehmer waren sich einig, dass die bedarfsgerechte Versorgung von Kindern eine unantastbare Priorität bleiben muss. Dr. Bernhard van Treeck, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die unparteiischen Mitglieder des G-BA die im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) beschlossene Vereinfachung des Genehmigungsverfahrens für Hilfsmittel in besonders gelagerten Fällen begrüßen. Zugleich kündigte er an, dass der G-BA im Februar Änderungen an der Hilfsmittel-Richtlinie (HilfsM-RL) beschließen will, die unter anderem auf die Versorgung von Menschen mit komplexen Behinderungen abzielen und zusätzliche Klarheit und Vereinfachung bei der Verordnungspraxis schaffen sollen.

Auch Prof. Mittelmeier hofft auf die einfachere Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit komplexen Behinderungen. „Doch Nachwuchsmangel und unzureichende Finanzierung in der Kinderorthopädie gefährden die Versorgung von Kindern und Jugendlichen”, unterstrich Prof. Mittelmeier. Auch in der Pflege können Hilfsmittel Entlastung schaffen – für Patienten wie für Pflegekräfte. „Hilfsmittel reduzieren nicht nur den Pflegeaufwand, sondern tragen auch dazu bei, die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor zu verbessern“, so Prof. Mittelmeier.

Versorgungsforschung: Datenbasis für bessere Teilhabe stärken

Prof. Dr. med. Bernd Brüggenjürgen, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und technische Orthopädie, brachte mit seiner wissenschaftlichen Expertise wichtige Erkenntnisse im Bereich der Versorgungsforschung in die Diskussion ein. Während die Krankheitslast und Fallzahlen in bestimmten Indikationen gut dokumentiert sind, fehlen detaillierte Analysen zu Versorgungspfaden und optimalen Behandlungsstrategien. „Um die Teilhabe zu verbessern, sind daher Sekundärdatenauswertungen, der Aufbau von Registern sowie vergleichende Real-World-Studien essenziell“, sagte Prof. Brüggenjürgen in Hannover.

Digitalisierung: Schlüssel für Effizienz und Vernetzung

Die Fachtagung machte zudem deutlich: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet eine große Chance, den Verwaltungsaufwand erheblich zu reduzieren, etwa durch Verschlankung des Dokumentationsaufwand für Leistungserbringer und Industrie. „Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die nötigen Information per Knopfruck zu erhalten, damit mehr Zeit für die Versorgung bleibt”, führte Jörg Rübensam, Produktmanager bei der gematik, aus. Die gematik wolle nicht die vorhandenen Prozesse zwischen Ärzten, Leistungserbringern und Kostenträgern für die Hilfsmittelversorgung eins zu eins ins Digitale übertragen, sondern sie hinterfragen und optimieren. „Die TI trägt ab 2027 zu einer einrichtungsübergreifenden und wohnortnahen Versorgung bei”, so Rübensam weiter.

„Zugleich kann die Digitalisierung die verschiedenen Akteure besser miteinander vernetzen. Sie trägt so unter anderem dazu bei, Doppelversorgungen zu vermieden und damit weitere Kosten im Gesundheitssystem zu senken”, ergänzte Prof. Mittelmeier.

Innovatives Lernmodul unterstützt Amputationsversorgung in der Ukraine

Ergänzend zum Thema der DGIHV-Fachtagung präsentierten Dr. med. Jörg Schiller und Dr. phil. Christoph Egen von der Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover ein innovatives Lernmodul, das die Versorgung von Menschen nach einer Gliedmaßen-Amputation verbessert und bereits in der Ukraine im Einsatz ist. Ein interdisziplinäres Team der Medizinischen Hochschule Hannover entwickelte das zweisprachige – deutsch-ukrainisch – Projekt gemeinsam mit Partnern innerhalb von acht Monaten für Fachleute, Menschen mit Amputation und Angehörige. Die Finanzierung übernahm das Bundesministerium für Gesundheit. Das Lernmodul soll die klassische Rehabilitation nach Amputation ergänzen. Es vermittelt Strategien, mit der neuen Lebenssituation umzugehen, neue Perspektiven zu sehen. Ebenso enthält es Fragebögen zur persönlichen Situation und Bedürfnissen, aber auch praktische Tipps zur Hygiene, dem An- und Auskleiden oder dem Treppensteigen nach Beinamputation und dem Schuhzubinden mit einem Arm.

Über https://digitale-lehre-mhh.de kann auf das Lernmodul kostenfrei zugegriffen werden.